Juli 2011

Ulrich Theodor Timpte
Ludgeristr. 11
46242 Bottrop
Tel: 02041-763085                                                                                                                                                20. Juli 2011

Liebe Verwandte, Freunde und Bekannte!

Im Juni/Juli war ich in Gedanken häufig in Argentinien, bzw. auf meiner Reise dorthin; denn vom 7. Juni bis 5. Juli 1986 weilte ich auf dem polnischen Frachter, der mich nach Argentinien brachte. Vor genau 25 Jahren fing dort mein zweites Leben an…

Situation in San Martín de Porres

Die Situation in der Pfarrei San Martin de Porres hat sich seit meinem letzten Rundbrief im Dezember wieder verändert, leider verschlechtert: Ich hatte ja schon vor einiger Zeit mitgeteilt, dass Padre Marcelo, mein Nachfolger, seit Anfang 2010 die Leitung der Haupt- und Mutterpfarre von Florencio Varela übernehmen musste. Gleichzeitig blieb er Pfarrer in San Martín, zur Seite hatte er einen Neupriester, Bachi, und einen Ordenspriester, Juan José, der sich ein Jahr „Auszeit“ vom Orden erbeten hatte und in San Martín wohnte und mithalf. Marcelo und die Gemeindemitglieder von San Martín hatten sehr gehofft, dass er als Pfarrer bei ihnen bleiben würde. Aber  Ende des vergangenen Jahres teilte er der Gemeinde mit, dass er sein Priesteramt aufgibt, um mit seinem kleinen Sohn und dessen Mutter zusammen zu leben. „Seine Nähe zu den Leuten, seine Einfachheit, seine Weisheit, seine Spiritualität und Bildung waren ein großer Gewinn für die Gemeinde. Sein Weggang enttäuschte viele der aktiven Gläubigen. – Auch die Tatsache, dass der Pfarrer (Marcelo) nicht am Ort lebt und auch noch eine andere Pfarre zu leiten hat, bringt Schwierigkeiten mit sich, wenn es um die geistliche Begleitung und Ermutigung des Gemeindelebens geht“, schreibt Marcelo. Man muss bedenken, dass zu San Martín de Porres etwa 27.000 und zur Stadtmittepfarrei 18.000 bis 20.000 Katholiken gehören.

Wenn es auch hier und dort einen gewissen Rückgang an Beteiligung und Aktivität gibt, so sind Marcelo und Bachi doch sehr ermutigt durch das hohe Engagement, das Selbstbewusstsein  („Kirche – das sind wir“) und das Verantwortungsbewusstsein derer, die den Gemeindekern bilden. „Die Gemeinde leitet sich praktisch selbst“, sagte mir dieser Tage Marcelo am Telefon. Neben der Familien- und Firmkatechese, der Krankenpastoral, der Gottesdienstgestaltung, der Kinder- und Jugendarbeit, der Seniorenarbeit und den Basisgemeinschaften sind es vor allem die sozialen Projekte, die mit unverminderter Kraft weitergeführt werden, so wie ich es in meinen letzten beiden Rundbriefen und in dem neuen Flyer beschrieben habe, den ich diesem Rundbrief beifüge. (Wer möchte, kann zusätzliche Exemplare zur Information von Bekannten anfordern).

Die Volksküchen

In der Volksküche des Pfarrzentrums erhalten jeden Tag etwa 300 Personen ein warmes Essen und in der Kapelle „Unsere Liebe Frau von Caacupé“ ca. 290 Personen. Was die Arbeit in den Volksküchen betrifft, möchte ich an die vielfältigen Angebote erinnern, die sich in ihrem Rahmen entwickelt haben und in meinem Rundbrief vom Juni vergangenen Jahres beschrieben sind: Bibelrunden, Tischgebet mit kurzer Betrachtung, Bastelarbeiten, Hausaufgabenhilfe und Spiele mit Kindern, die die Jugendgruppen organisieren.  Diese und andere Aktivitäten dienen dazu, die Leute aus der Vereinzelung herauszuholen und Gemeinschaft erleben zu lassen. Im Sommer (Februar!) konnten die Mitarbeiter sogar mit einem Teil der Leute, die von sich aus nie dazu in der Lage wären, einen Busausflug an die Küste unternehmen. „Es war eine sehr schöne Erfahrung, denn viele haben sich stärker integriert. Alle teilten miteinander beim gemeinsamen Essen das Viele oder Wenige, das sie mitgebracht haben. Es schien, dass sich alles vermehrte, denn manche konnten gar nichts beitragen. Es war ein ganz besonderer Tag, den alle sehr genossen. Gleichzeitig planten einige schon einen weiteren Ausflug mit denen, die diesmal nicht dabei sein konnten.“          

So schrieb mir Maxi, die Leiterin der Volksküche in Caacupé. Im April und Mai dieses Jahres schickte sie mir Mails, um über ihre Erfahrungen zu berichten. Sie ist 37 Jahre alt und seit 15 Jahren mit Ariel verheiratet. Sie haben zwei Kinder von 13 und 5 Jahren. Ich kenne die beiden schon aus der Zeit, als sie noch Mitglieder der Jugendgruppe waren. Später haben sie sich in der Firmkatechese, in der Jugendarbeit, in der Familienkatechese und im Gemeinderat engagiert. Ariel ist zurzeit Vorsitzender des Gemeinderates von Caacupé. Beide kommen aus sehr bescheidenen Verhältnissen.

Maxi schreibt im April:

„Ich habe die Arbeit in der Volksküche vor knapp drei Jahren mit großer Angst übernommen, es war ja eine ganz neue Tätigkeit, die in gewisser Weise die ganze Familie betrifft, eine große Herausforderung und viel Verantwortung. Aber der Ruf Gottes durch die notleidenden Brüder und Schwestern war so stark, dass wir darauf antworten mussten. Heute können wir mit Überzeugung sagen: der Dienst am Nächsten schenkt einem selbst mehr als man gibt, er schenkt Erfüllung, Freude und Herzensfrieden. Wir fühlen uns berufen, zu helfen und ein wenig die Not unserer Brüder und Schwestern zu lindern, die sich wegen der Ungerechtigkeit in unserer Gesellschaft nicht einmal einen Teller warmen Essens am Tag leisten können.

In der kurzen Zeit unseres Dienstes haben wir traurige und freudige Erfahrungen gemacht und oft Ohnmacht verspürt.

Opa Orlando

Wir haben viel Leid kennengelernt, wie den Fall des „Opas“ Orlando, der einen Tag vor Weihnachten in einem Altenheim nach nur zwei Wochen Aufenthalt verstarb. Bevor wir ihn dort mit der Hilfe von Padre Marcelo unterbringen konnten, hat er einige Monate bei der Familie von Julio Gomez gewohnt (ebenfalls eine arme Familie mit sechs Kindern!), während die Gemeinde und Marcelo die Familie wirtschaftlich unterstützt haben. Sein Tod hat mich sehr traurig gemacht, denn bei jeder Begegnung, bei einem einfachen Gruß, vermittelte mir der strahlende Blick des Opas viel Freude und Frieden. Dass ich ihm nicht mehr helfen konnte, tat mir weh; sein Gesundheitszustand verschlechterte sich zusehends, weil ihm der Halt in einer eigenen Familie fehlte, weil er alkoholabhängig, verlassen und einsam war.

Wir wissen, dass viel zu tun ist; denn die Not vieler ist sehr groß. Aber das Ziel, das wir uns als Mitarbeiter der Volksküche gesetzt haben, besteht nicht nur darin, ihnen einen Teller Essen zu reichen, sondern ihnen einen gewissen Halt zu bieten, dass sie sich wohl fühlen, mit Liebe und Achtung behandelt, dass sie sich nicht minderwertig und aus der Gesellschaft ausgeschlossen fühlen. Für diese Aufgabe ist es entscheidend, dass Gott gegenwärtig ist und sein Wort, das wir miteinander teilen. Das ist es, was uns Kraft und Mut gibt, und uns hilft, unsere Zeit mit Liebe einzusetzen, und zu versuchen, irgendwie die Liebe Gottes weiterzuschenken.

Ramona

Eine andere Erfahrung möchten wir mit Ihnen teilen: Neulich bekam eine junge, sehr arme Frau ihr Baby; seit kurzem wohnte sie im Barrio (Wohnviertel), und ihre Not hatte sie zur Volksküche gebracht. Ramona, so heißt sie, erzählte nach und nach, dass sie kein Bett hatte und dass sie die neun Monate ihrer Schwangerschaft zusammen mit ihrem zweijährigen Jungen auf dem nackten Fußboden geschlafen hatte. Es vergingen einige Tage, und die Armen der Volksküche schenkten ihr ein paar leichte Schuhe, einen Schnuller, Windeln und andere Sachen, dieselben Personen, die auf das Essen angewiesen sind, halfen ihr und umgaben sie mit Liebe und Verständnis. Diese Erfahrung zeigt uns, wie groß die Liebe Gottes ist, und dass sie sich vor allem unter den ganz Armen offenbart und sie mit Kraft und Freude erfüllt, damit sie ihren Weg weitergehen. Und wie Mutter Teresa gesagt hat: Von den Armen haben wir gelernt, dass zunächst einmal wir selbst die Armen sind. Sie geben uns viel mehr als wir ihnen zu geben meinen, ihre Fröhlichkeit trotz der Armut, ihr Wunsch zu leben, ihre Einfachheit zu empfangen.“

Im Brief vom Mai dieses Jahres fährt Maxi fort: „Ramona hat uns zugleich gelehrt, dass wir für bestimmte Situationen keine Lösung haben, auch wenn wir von einem hohen Ideal beseelt sind; nämlich wenn die andere Person ihr Leben nicht wirklich ändern will oder ändern kann. Sie hatte uns erzählt, was sie mit ihren Kindern an der Seite eines Mannes erlitten hatte, der sie misshandelte und missbrauchte. Er war verheiratet und hatte Familie. Sie war damals mit einer Freundin als junges Mädchen von Paraguay gekommen, um hier eine bessere Zukunft zu suchen. Als die Freundin durch einen Unfall ums Leben kam, stand sie plötzlich allein da in einem fremden Land, ohne Familie und Angehörige. Nachdem sie jenen Mann kennengelernt hatte, ließ sie sich durch falsche Versprechungen dazu verleiten, mit ihm zusammen zu leben.

Als sie zu uns kam, war die ganze Pfarrgemeinde willens, ihr zu helfen, man suchte eine würdigere Wohnung, wo sie mit ihren Kindern leben konnte, in der Nähe der Volksküche, wie sie es wünschte. Aber am Ende weigerte sie sich, aus der Garage auszuziehen, wo sie wohnte, und sich von jenem Kerl zu trennen. Ich persönlich verurteile sie nicht wegen ihres Verhaltens. Wer bin ich, um das zu tun? Zunächst tat es mir sehr weh, vor allem wegen der Kinder. Aber diese Situation veranlasste uns auch, zu reflektieren und zu erkennen, dass wir nach Möglichleiten suchen müssen, solche Situationen der Gewalt, die viele Frauen in unseren Barrios erleiden, besser zu begleiten; damit die Veränderung ihrer Lage eine Entscheidung ist, die von ihnen selbst ausgeht, damit sie Ängste und Verunsicherungen überwinden können, die Wertschätzung ihrer selbst zurückgewinnen und ihre Würde als Personen und Kinder Gottes entdecken.

Begleitung von Frauen, die Gewalt leiden

Für diese Aufgabe mussten zunächst wir selbst Hilfe suchen. Denn es ist nicht mit einer Anzeige bei der Polizei von Seiten der Opfer getan. Dank einer Verbindung von Christina (eine Mitarbeiterin in Caacupé) zu Schwester Maria Inés, die in der Ökumenischen Menschenrechtsbewegung mitarbeitet und ein ungewöhnliches Talent besitzt, konnten wir im Pfarrzentrum an sechs Tagen ein Workshop über Gewalt gegen Frauen und Kinder organisieren, an dem ca. 25 Frauen teilnahmen. Maria Inés hilft bei der Einrichtung von Beratungsstellen, die den bedrängten Frauen beistehen. Die Workshops waren für mich unglaublich, nicht nur was das Zeugnis vieler Frauen betrifft, die zuhause Gewalt erleiden, sondern auch bezüglich der vielfältigen Formen von Gewalt, die tagtäglich in unseren Vierteln ausgeübt wird. Wir glauben, dass es notwendig ist, eine Beratungsstelle in unseren Barrios zu schaffen. Und wir laden andere Pfarrmitglieder ein, dabei mitzumachen. Hoffentlich ermöglicht Gott uns seine Entstehung!“

Am Telefon sagte mir Maxi heute, dass sie inzwischen fünf Frauen sind, die sich in einem Kurs in San Martín de Porres von Schwester Maria Inés schulen lassen, um in naher Zukunft eine Beratungsstelle in der Pfarrei zu eröffnen, in der sie unterdrückten Frauen Hilfe anbieten können.

Noch einmal Ramona

Im Maibrief fährt Maxi fort: „Am vergangenen Montag besuchten wir Ramona und brachten ihr etwas Kleidung und Lebensmittel. Wir trafen sie in derselben Garage an, sie war ganz blass, ihr Körper ausgezehrt, ohne Lichtglanz in ihren Augen, so dass wir sehr traurig waren, sie so zu sehen. Sie aber lächelte und fing fast zu weinen an. Christina und ich sammelten all unsere Kräfte, um ihr Hoffnung zu machen, und mit Umarmungen und Küssen versicherten wir ihr, dass wir für sie da sind und dass sie sich nicht von der Gemeinde entfernen solle, denn seit einiger Zeit kam sie nicht mehr. Als wir wieder im Auto saßen, fingen wir an zu weinen wegen der Ohnmacht und Traurigkeit, die wir spürten. Sie leidet, aber gleichzeitig ist sie wie gelähmt, ohne Kraft zu kämpfen, nicht einmal um die Behördengänge zu machen, damit ihre Kinder einen Ausweis bekommen und damit sie Kindergeld vom Staat kassieren kann. Was geschieht mit Personen, die so leben? Man kann niemanden zwingen, sein Leben zu ändern, dem Leben mit mehr Mut und Liebe zu sich selbst die Stirn zu bieten.

Uns bleibt nur der Trost des Gebetes und des Zeugnisses, dass Gott uns liebt. Wir müssen das Leben würdigen durch unser Verhalten, dies Leben, das ein so kostbares Gut und ein Geschenk Gottes ist. Padre Teo, wir bitten um Ihr Gebet, damit wir jeden Tag wachsen können an innerer Kraft, an Glaube und Hoffnung; damit wir mehr Schwestern und Brüdern, die leiden, helfen können, damit wir Antworten finden auf das, was wir nicht verstehen. Wir wissen, dass der größte Hunger vieler der Hunger nach Gott ist, um aus der spirituellen Armut herauszukommen und das Leben mit mehr Hoffnung wieder aufzubauen, um zu einem menschenwürdigen Leben zu gelangen.“

Ich habe diesen Bericht von Maxi so ausführlich wiedergegeben, weil er ein Zeugnis ist, das uns typische Situationen von Menschen in den Vierteln der Pfarrei eindrücklich schildert und einen Einblick gibt in die tiefe Spiritualität von Menschen, die sich aus lebendigem Glauben heraus dieser Not annehmen. Maxi und ihre Mitarbeiterinnen arbeiten ehrenamtlich, als Entgelt erhalten sie nur ein kleines Taschengeld, worauf sie selbst angewiesen sind.

Für sie sind kirchliche Strukturfragen und die Maßgaben der Kirchenleitung weniger wichtig…Für sie ist Kirche die Gemeinschaft, in der sie ihren Glauben, die Nachfolge Jesu, leben!

Am Telefon sagte mir Maxi, dass Ramona im Juni mit ihren Kindern auf der Straße gelandet war und von der Polizei aufgelesen wurde. Maria Inés ist es gelungen, sie mit ihren Kindern in einem Frauenhaus sicher unterzubringen.

Grüße und Dank

Liebe Freunde, im November und Dezember werde ich in Buenos Aires sein, so dass ich wieder aus eigener Anschauung berichten kann. Der nächste Rundbrief wird aber wohl erst nach Weihnachten zu Euch gelangen, da ich erst Mitte Dezember zurückkomme. Es lohnt sich, von Zeit zu Zeit in die Homepage zu schauen. Inzwischen habe ich die Fotos von meinem letzten Besuch eingestellt.

Mit ganz herzlichem Dank an alle, die die Arbeit der Gemeinde weiter treu unterstützen, und den besten Wünschen für alle, die den Sommer genießen möchten und Urlaub haben, grüße ich Euch von Herzen!

P.S.  Wer inzwischen eine Email-Adresse eingerichtet hat, möge mir das bitte mitteilen. Dann bekommt er/sie meinen nächsten Rundbrief auf elektronischem Wege.